Noch namenlos

Lukkha legte den Kopf schief und ließ den Mann nicht aus den Augen.
"Salz oder Alkohol. Oder beides", hörte sie sich sagen. Mit einem lieblosen Lächeln in seine Richtung kauerte sie sich zusammen und versuchte, sich so gut es ging unter die raue Decke zu kuscheln.
Sie hatte ihre Erschöpfung nicht bemerkt, doch jetzt, liegend und zugedeckt, legte sie sich über sie wie schwerer Nebel. Ihr Herz pochte immer noch kräftig und schneller als normal und sie lauschte diesem Geräusch, bis sie langsam wegdämmerte.

Ich kann mir weder Salz noch Alkohol leisten. Ich kann mir nicht einmal Nahrung leisten.
Nachdenklich sank er zurück und starrte die Decke an.
Normalerweise regenerierten sich seine Verletzungen schnell, doch seit er in einem solchen schlechten Zustand war, war die Wundheilung so gut wie überhaupt nicht mehr intakt. Und das zehrte an seinen Kräften, schlauchte ihn jeden Tag mehr und selbst Schlafen stellte sich für ihn als schwierig war.
Seine Müdigkeit war gross, aber die Schmerzen waren größer. Er legte den Kopf in den Nacken, starrte die Höhlendecke an und versuchte, die Schmerzen in den Hintergrund zu stellen um zu schlafen.

Als Lukkha erwachte, wusste sie nicht mehr genau, was sie geträumt hatte, sie wusste nur, dass es irgendwas mit ihr und einem Mann und einer Reise nach Norden zu tun gehabt hatte. Aber egal, es war nur ein Traum, sie würde aufstehen, baden, frühstücken und endlich das Fest feiern.
Als sie sich auf den Rücken drehen und strecken wollte, hinderten sie Fesseln daran.
"Nein."
Harter Boden unter ihrem Körper ließen Tränen der Verzweiflung in ihre Augen steigen.
"Nein ... !"
Mit rasendem Herzen starrte sie in die dunkle Höhle, riss wie verrückt an den Fesseln, bis ihre Handgelenke wund waren. Dann nahm sie ihren Entführer war, diesen Mistkerl, dieses verdammte Stück Dreck, und schließlich brachen alle Dämme und sie sackte weinend in sich zusammen.
Warum?

Laryc war in einen tranceähnlichen Zustand verfallen, nachdem er nicht schlafen konnte, aus dem er jetzt durch Lukkha aufgeschreckt wurde.
Sein Blick fand den direkten Weg zu ihr und ersuchte den Grund für diesen Gefühlsausbruch.
Er selbst kannte so etwas nicht und so wollte er versuchen, das zu verstehen.
»Was ist?«
Seine Stimme war ruhig, er selbst war sehr müde und wollte eigebtlich nur schlafen, doch eine Antwort auf seine Frage interessierte ihn jetzt mehr.

Die dunkle Stimme ließ sie zusammenzucken. Hatte er nicht geschlafen?
Langsam richtete sie sich auf, blickte auf den Boden und wischte grob mit ihrem Handrücken die Tränen fort.
"Was soll schon sein?", raunte sie. "Ich weiß auch nicht ... vielleicht bin ich einfach entführt worden von einem ekelhaften, furchtbaren Menschen, der sich weigert, mir zu sagen, wer er ist, der mich behandelt wie ein Stück Dreck, der nichts von dem tut, was ich von ihm verlange? Ja, vielleicht ist es das!", fauchte sie ihn an. Wut kochte in ihr und sie wollte auf ihn einschlagen, doch die Fesseln hinderten sie daran.

Laryc grummelte.
»Super. Soll ich mal anfangen zu erzählen, was mir nicht passt?«
Irgendwie regte sie ihn auf.
Sie hatte überhaupt keine Ahnung, lebte in ihrem Anwesen mit ihrem einflussreichen Grafen als Vater und brauchte sich um nichts zu sorgen.
Er kämpfte Tag für Tag um sein Leben und man bezeihnete ihn als ekelhaft, einen Verräter und Mörder.
Doch er wusste, dass die Welt noch nie gerecht war.
Er fand sich damit ab, doch sie führte sich auf wie eine verzogene Prinzessin.
Erschöpft sank er noch etwas zu Boden, war einfach viel zu müde.

"Was dir nicht passt? Ich habe dich nicht gezwungen, mich zu entführen!", zischte sie, erbost von seiner Desinteresse und Kühlheit.
"Gib mir was zu trinken", sagte sie schließlich. Ihr Hals war trocken und rau, und sie hatte Durst.
Sie erinnerte sich an den Schluck Wein, den sie zu sich genommen hatte, kurz bevor dieser ... Mann ... sie mitgenommen hatte. Sie erinnerte sich daran, dass heute das Fest stattfinden sollte. Ihr Fest.
"Gott, ich hasse dich!"

Er lachte trocken.
Wer hasste ihn nicht?
Zwar verstand er den Grund nie wirklich, hatte aber auch keine Lust, es zu verstehen.
Also ging er zu seinem Beutel und kramte eine halbleere Flasche hervor, die er ihr reichte.
Bald würde er neues holen müssen, doch noch war es zu hell, wie er nach einem flüchtigen Blick nach draussen erkannte.
Sie würden noch Ausharren müssen und er musste unbedingt Schlaf finden.
Also schloss er die Augen wieder, doch das erwünschte Absinken in tiefe Schwarze blieb aus und so starrte er wieder gegen die Höhlendecke.

"Ich hab leider gefesselte Hände, lässt sich schlecht trinken so...", knurrte Lukkha mit zu Schlitzen zusammengezogenen Augen.
Sie konnte dem Mann Erschöpfung ansehen, aber er hatte es doch nur verdient! Irgendwann war er zu müde, zu schwach, und dann würde sie nach Hause laufen!
"Wo kommst du her? Warum tust du das? Was hast du davon?", fragte sie nach und blickte in das Gesicht ihres Entführers.
"Warum ich und nicht irgendwer anders?"

Wortlos stand er auf und hielt ihr vorsichtig die Flasche an den Mund.
Und er suchte nach Antworten.
'Warum sie?'
Wer hatte das zu entscheiden?
Wieso bekam er so ein Leben, warum nicht jemand anderes?
Auf solche Fragen gab es keine klare Antwort.

Sie trank nahezu alles aus der Flasche leer, woraufhin er sie zurück in seinen Beutel legte.
»Ich komme irgendwo aus dem Nordwesten.«
Den genauen Weg kannte er schon lange nicht mehr, nur die Richtung stimmte.
Und dass er sie nicht aus Vergnügen entführt hatte, musste sie doch wohl selber festgestellt haben.
Er musste schliesslich auch irgendwie leben und momentan sah es schlecht für ihn aus.

"Warum bist du nicht dageblieben? Sieht ja nicht danach aus, als würden deine Wanderungen dir Glück bringen", stellte sie fest und betrachtete den Mann genauer.
Sein silbrig-graues Haar hatte wohl schon länger keine Seife mehr gesehen, unter den trüben, hier im Dunkel der Höhle braunen Augen ließen sich Schatten erkennen, seine kräftige Gestalt wirkte hungrig, erschöpft und ausgemergelt.
Er könnte ihr leidtun, wenn er sie nicht entführt hätte.
"Und was hast du mit mir vor? Und verrate mir doch einfach deinen Namen, ist das so schwer?"

»Sie wollten mich dort nicht.«
So wie sie mich überall nicht wollen.
Wieder schloss er seine Augen in dem Versuch, endlich zu Schlaf zu kommen, doch es half nichts.
Knurrend und unzufrieden erhob er sich, das konnte doch einfach nicht wahr sein.
»Mein Name ist Laryc.«
Er schluckte.
Seiner Meinung nach war sein Name das schlimmste an ihm.
»Ich soll Euch nach Norden bringen.«
Es kam ihm seltsam vor, mit ihr darüber zu reden, wohin es ging und was passieren würde, aber sie hatte gefragt und er würde nicht lügen.
Und er hätte sich auch nicht zu solchen Aufträgen hinreißen lassen, wenn es ihm nicht so schlecht ginge.
Wenn man ihn nicht verstossen hätte.

Ein bisschen überrascht von seiner plötzlichen Offenheit sah Lukkha Laryc an.
"Das ist doch ein schöner Name, warum scheust du dich, ihn mir zu verraten?", fragte sie nach.
"Ich nehme an, meinen Namen kennst du, wenn du den Auftrag hast, mich nach Norden zu bringen. So wie du dich anhörst, machst du das jedenfalls nicht freiwillig", stellte sie dann fest und verzog das Gesicht.
"Wo genau nach Norden? Warum?", wagte sie die nächste Information aus ihm herauszukitzeln.

»Ein schöner Name?« Er lachte spöttisch und sah wieder zum Höhlenausgang.
Wenn er noch schlafen wollte, musste er das jetzt tun.
»Nach Norden, ich denke er wird sich in Flusswald herumtreiben.
Warum genau kann ich Euch nicht sagen, ich weiss es nicht.«
Er verstand sich selbst nicht. Wieso erzählte er ihr das?
Wahrscheinlich kommt das von der Müdigkeit
Sein Blick ging zurück ins Höhleninnere.
Freiwillig. Mache ich das freiwillig? Nicht wirklich ich habe schliesslich keine Wahl...
Und so legte er sich wieder zurück, doch der Schlaf wollte nicht über ihn kommen.

Lukkha atmete hörbar aus.
"Das hilft mir zwar nicht so sehr, wie ich mir erhofft hatte, aber immerhin weiß ich jetzt ein bisschen was. Was nicht heißt, dass ich es dir sonderlich leicht machen werden, an dein Ziel zu gelangen", informierte sie Laryc mit trotzig vorgeschobenem Kinn.
Als er nicht antwortete, sah sie ihn an. Er sah todmüde aus. Eigentlich hatte ihr das egal zu sein. Warum auch immer, es war es aber nicht.
Ich könnte ... ihn in den Schlaf singen ... wie ein Kind ... aber warum sollte ich ...?
Lukkha schüttelte kaum merklich den Kopf und wollte sich abwenden, doch ein weiterer Blick auf den erschöpften Laryc ließ sie innehalten.
Na gut. Ausnahmsweise. Wozu ist man schon eine Halbsirene?
Leise begann sie, in einer fremdartigen Sprache ein langsames, melodisches Lied zu singen, dessen ruhige Melodie ihren Entführer in einen sanften Schlaf wiegen sollte.

Dass es nicht leicht werden würde, das wusste er auch ohne ihren Hinweis.
Der leise Klang ihrer Stimme verwirrte ihn zunächst.
Was hatte sie vor?
Er erinnerte sich an die Szene, als er sie entführt hatte. Sie hatte auch gesungen. Vielleicht machte sie das einfach gerne.
Doch bald machte sich eine immer größer werdende Müdigkeit breit, bis er endlich in die erlösende Schwärze absank.

Als Laryc die Augen zufielen, schlich sich ein kleines Lächeln auf Lukkhas Gesicht. Sie hatte es nicht verlernt! Sie konnte es immer noch. Sehr gut.
Sie sang noch eine Weile weiter, bis die ruhige Atmung des Mannes seinen tiefen Schlaf verriet.
Zufrieden mit ihrem Werk verstummte Lukkha und betrachtete mit einem Ausdruck größter Selbstverliebtheit auf dem Gesicht den Schlafenden.
Jetzt könnte sie ohne Probleme fliehen, wären da nicht diese verflixt gut verknoteten Fesseln und die starken Wurzeln. Naja, früher oder später würde er sicher nochmal unachtsam sein, und dann ... überzeugt von ihrem guten Plan legte Lukkha sich zurück auf den kalten Stein und schloss ihrerseits die Augen.

Das angenehme Gefühl der entspannenden Schwärze währte nicht lange.
Eine gewisse Hitze breitete sich in ihm aus.
Fieber, vermutlich.
Grummelnd schlug er die Augen auf.
Obwohl er etwas geschlafen hatte, fühlte er sich nicht viel besser.
Die Verletzung brannte und hatte über Nacht wieder angefangen zu bluten.
Grummelnd raffte er sich auf und griff nach seinem Mantel.
Er musste wohl einen neuen Verband machen, zum Auswaschen war keine Zeit und es war noch zu hell.
Aber nicht mehr lange und die Sonne würde untergehen.
Hunger und Durst machten sich gleichermassen bemerkbar, doch er wollte den letzten Rest, den er noch hatte, nicht jetzt verschwenden.
Nachdenklich betrachtete er die Verletzung.
Blut.

Von den Bewegungen Larycs aufgeschreckt, öffnete Lukkha die Augen und gähnte herzhaft.
Sie strich sich ihr dunkelrotes Haar aus dem Gesicht und versuchte für einen kurzen Moment, es in die kunstvolle Frisur zu verwandeln, in der sie es sonst immer trug. Aber sie hatte weder Spiegel, Kämme, Spangen oder Schmuck, sodass sie es aufgab und es offen fallen ließ.
Das Dämmerlicht, das durch den Höhleneingang fiel, verriet ihr, dass es bald Nacht sein würde.
Sie hatte ihr Fest verschlafen! Ihr Fest! Und daran war nur dieser Laryc Schuld! Aber sie war sich sicher, es würde nach ihr gesucht werden und man würde sie finden, bevor sie da irgendwo im Norden ankommen würden!

»Wir müssen bald weiter.«, informierte er sie, als er bemerkte, dass sie erwacht war.
Er riss sich kurzerhand ein Stück aus seinem Mantel und verband provisorisch die Verletzung uns biss vor Schmerzen die Zähne zusammen.
Es brannte schon ziemlich.
Dann rollte er die Decke zusammen und verstaute sie, warf dabei immer einen Blick auf den Ausgang der Höhle.
Er konnte nur hoffen, dass ihnen niemand auf den Versen war.
In seinem Zustand wäre das ein schwieriges bis tödliches Unterfangen.
Überlegend nahm er seinen Beutel an sich und löste die Fesseln von Lukkha von den Wurzeln.

Als er die Fesseln vom Holz löste, stand sie auf und streckte sich. Jeder Knochen tat ihr weh vom Schlafen auf dem harten Untergrund und die vermutete tausend blaue Flecke an ihrem Körper.
"Die nächste Unterkunft wird hoffentlich besser!", murmelte sie missgelaunt in seine Richtung.
Sie blickte an sich herab und seufzte. Das dunkelgrüne Kleid, das sie trug, war am Saum zerrissen und dreckig, ihre Füße waren wund und voll Staub, auch ihre Hände und Arme waren verschmutzt.
Sie fragte sich, wie lang sie noch in diesem Auftreten herumlaufen musste, es war ihr höchstpeinlich, keine Grafentocher lief so herum!
Andererseits ... war sie auch eine entführte Grafentochter ...

»Die Unterkunft war schon höchster Luxus.«, murmelte er leise und sah der Sonne beim Untergehen zu.
In der Nähe ist ein Stall. Ich könnte ein Pferd stehlen.
Seinen Gedanken nachhängend packte er ihre Fesseln und verliess die Höhle, leichter Regen prasselte auf sie herab, die Sonne war vollständig untergegangen.
Sein Weg führte ihn aus dem Wald heraus und schon bald war der Stall in Sicht.
Auf der Wiese graste ein dunkles Pferd, es schien unbewacht zu sein.
Ein Grinsen stahl sich auf seine Lippen, als er zuerst Lukkha auf das Pferd hob und sich dann dahinter schwang.
Das würde ihre Reise um einiges einfacher und schneller machen.
Schnell weit weg von den Wachen, auch wenn er eigentlich fast überall bekannt war.
Er erinnerte sich an die Brandnarben.
Wie er sie verachtete.
Und seinen Körper dafür.

Das Pferd strahlte eine angenehme Wärme aus und seine eleganten, gleichmäßigen Bewegungen riefen in Lukkha ein Gefühl der Sicherheit hervor. Sie ritt sehr gern, am liebsten am Meer, am Strand, neben der untergehenden Sonne und mit den Wellen.
"Ist das dein Pferd?", wollte sie von Laryc wissen, der seine Arme von hinten um sie legen musste, um das Tier an der Mähne lenken zu können. "Es ist ein gutes."
Es war stark, sein Fell glänzte gesund und es galoppierte gleichmäßig.
Der Regen hatte in kurzer Zeit Lukkhas Kleid durchnässt, auch das Fell des Pferd war feucht, doch groß störte die junge Frau sich nicht daran. Wasser war ihr Element und ließ sie sich geborgen fühlen.

»Nein.«, erwiderte er belustigt.
»Würde ich ein Pferd besitzen wäre ich sicher nicht hier.«
Er seufzte.
Wo kommt das her? Diese Missmutigkeit...
Der Regen durchnässte seine Kleidung, die dann an der Wunde klebte.
Das verstärkte das Brennen noch mehr und er musste an sich halten, um ruhig zu bleiben.
Ein wenig in Trance versunken lenkte er das Pferd, das in monotonen Trab verfallen war, in Richtung Norden.
Doch als er in der Ferne Fackeln erkannte, schreckte er auf.
»Verdammt.«, knurrte er.
Ich muss hier weg. Verteidigen wird schwierig.

Als Lukkha in der Ferne die flimmernden Lichter sah, machte ihr Herz einen Hüpfer.
Wenn sie jetzt laut genug schreien würde, würde sie gehört werden, man würde sie zurück nach Hause bringen und Laryc seiner gerechten Strafe zuführen.
Sie holte tief Luft, öffnete den Mund und schrie. Das Pferd erschrak und verfiel in hektischen Gallop, begann zu bocken und steigen.
Lukkha verlor den Halt und fiel auf die nasse Erde, aber sie hörte nicht auf zu schreien. So schnell sie konnte krabbelte sie über den zu Matsch aufgelösten Boden außer Reichweite der Pferdehufe, rappelte sich mühsam auf und schrie immer weiter.