Noch namenlos

Unsicherheit breitete sich in ihm aus.
Er versuchte, in ihren Augen erkennen zu können, ob sie es ernst meinte.
Erinnerungen an früher durchströmten ihn, an Triss, an die ganze gute und schlechte Zeit.
Aber er wusste, dass dies hier nicht Triss war, nein, das war Lukkha.
Andererseits konnte er nicht mit Gewissheit sagen, ob sie nicht genauso handeln würde, nach einer gewissen Zeit.
Vielleicht würde das jeder tun.
Und er wusste nicht, was passieren würde, wenn sowas noch einmal geschah.
Sein Blick fixierte sie weiterhin, er erwiderte trotz all der Gedanken den Kuss.
"Wir sollten wieder rein. Ihr solltet schlafen.", sagte er schließlich eindringlich.
Wahrscheinlich war sie einfach nur aufgewühlt, fühlte sich alleine gelassen, wegen ihrer Erinnerungen. Wegen dem Zimmer, wegen der Stadt.
Und letztendlich auch, weil er sie aus ihrem Leben gerissen hatte.
Anders konnte er es sich nicht erklären, auch wenn er gerne wollte.
Aber sich etwas einzureden würde nicht helfen, sondern würde es gegen Ende einfach nur schlimmer machen.
Und Laryc hatte keine Lust mehr auf 'noch schlimmer'.

"Was ich tun sollte und was ich tun will sind nicht zwangsläufig das Gleiche ...", erwiderte sie leise, senkte den Blick auf ihre Stiefel und ließ ihre Hände an Larycs Brust ruhen.

"Zum Beispiel sollte ich das hier alle nicht tun", sie verzog das Gesicht und biss sich auf die Unterlippe, "aber ich tue es trotzdem."

Sie sah den Dämonen an. Er wirkte gedankenverloren und Lukkha wüsste gern, was er dachte. Aber danach zu fragen kam ihr unpassend vor. Andererseits war das alle hier reichlich unpassend.

"Ich sollte dir auch nicht sagen, dass ich ... dich wirklich mag und du mir auf eine seltsame Art und Weise etwas bedeutest - was außerordentlich unadäquat ist der Tatsache wegen, dass du mich entführt hast ... aber andererseits habe ich durch die die Welt gesehen, Menschen und Orte kennengelernt, die ich nur aus den politischen Berichten meines Erzeugers kenne ... die nur theoretisch für mich existiert haben ... Du bist ein Grund, warum ich nicht wie eine ... Hure verkauft wurde ... und ich fürchte, du glaubst mir das alles nicht, toter Mann ..."

Laryc musterte sie eine Weile.
Meinte sie es wirklich ernst.
»Lukkha. Es tut mir Leid, dass ich Euch Eurer Familie entrissen habe.«
Hatte er das jetzt wirklich gesagt?
Sein Blick blieb auf ihr ruhen.
Eigentlich war es doch nur die Wahrheit, die er ausgesprochen hatte.
Aber dennoch war es seltsam.
»Na kommt schon. Schlaf ist wichtig für Euch.«
Und ob er ihr glauben sollte, was sie sagte, wusste er nicht.
Eigentlich folgte grundsätzlich etwas Schlimmes, wenn er jemandem glaubte.
Ein Risiko, das er lieber nicht nochmal eingehen wollte.

"Das muss es nicht mehr", sagte Lukkha leise, ehe sie dem Dämonen ein kurzes Lächeln schenkte, letzte Tränenrest von ihrem Gesicht strich und seinem Rat folgte.
Sie ging in Richtung Gasthaus, hörte ihn hinter sich.

Immernoch war die Luft gefüllt von Rauch und Funken und Lukkha sehnte sich nach einem Bad, um all den Ruß und Erinnerungen fortzuwaschen.

"Was machst du, während wir schlafen?", fragte sie schließlich, als sie vor ihrem Zimmer stand. Ihr Herz schlug und die spürte die Angst davor, dass sie erneut zusammenbrechen würde, wenn sie die Tür öffnete.
Sie atmete tief ein und aus und versuchte an irgendetwas zu denken, was sie ablenken würde.

"Mal sehen, was ich tue.", erwiderte er leise.
Vermutlich würde er sich in der Stadt umsehen, in der Dunkelheit sah alles so friedlich aus.
Er konnte ihr ihre Anspannung förmlich ansehen, doch er wusste ihr nicht zu helfen.
Wie sollte er auch?
Er kannte Überschwemmungen durch Gedanken an die Vergangenheit schließlich zu gut.
Und er wusste genau, dass es da nichts gegen zu machen gab.
Auch wenn es bei ihr eine komplett andere Vergangenheit zu sein schien.

"Also gut", Lukkha atmete durch und nickte. "Dann also bis morgen, Laryc Aserran."
Sie sah ihm einen Moment lang in die Augen, ehe sie den Blick senkte, die Tür öffnete und ins Zimmer huschte.

Mit festen Schritt durchquerte sie das Zimmer und gelangte ins angrenzende Bad. Sie drehte die Wasserhähne an der Badewanne auf und konzentrierte sich auf das Geräusch des Wassers, das langsam alles aus ihrem Kopf verdrängte, Gefühle und Wahrnehmungen fortspülte und sie für ihre Umgebung blind machte.

Laryc starrte die geschlossene Tür eine Weile an, ehe er sich umdrehte und nach draußen lief.
Die Nacht war kühl und dunkel, so beschloss Laryc, sich etwas umzusehen.
Meinte sie es wirklich ernst?
Das... kann einfach nicht sein.
Nachdenklich streckte er seinen Rücken durch und lief zwischen Gebäuden hindurch, in denen Kerzen brannten und alles in ein schummriges Licht rückten.
Es gefiel ihm nicht, das Mondlicht war da viel angenehmer, viel subtiler und ohne Bedrohung.
Zwar war es kein Mond, der nie sinkt, doch auf der anderen Seite wäre das vor allem für Personen wie Lukkha schlecht.
Mondlicht würde ihr nicht reichen, sie würde nicht sehen können.
Und ob das bei einem bevorstehenden Kampf so sinnvoll war.
Da war es wieder: Kampf.
Laryc wusste wirklich nicht, ob sie bereit waren, ob sie wirklich siegen konnten und vor allem, ob die Ratten sie dann wieder akzeptieren würden.
Wenn das alles eintreffen würde, müsste Lukkha auch noch die Prüfung bestehen.
Eins stand fest: Mit Glück war das nicht zu schaffen.
Er zog sein Schwert, ließ es kraftvoll in der Luft schwingen.
Also mussten sie es mit Kraft, mit Stärke, mit Schwertern schaffen.
Und Hoffnung, auch wenn seiner Meinung nach in ihm keine Hoffnung mehr bestand.

Das Wasser war warm, schmiegte sich an Lukkhas Körper, plätscherte leise gegen die Keramikwand der Badewanne, kitzelte an ihrem Kinn.
Sie schloss die Augen und ließ sich ganz hineinsinken, ihr Haar wurde durchnässt, an ihren Wimpern spürte sie die Verwirbelungen des Wassers durch ihre Bewegungen verursacht.

Eine Weile verharrte sie so, ehe sie wieder auftauchte und nach einer Bürste griff, sich wusch, Dreck, Schweiß und Angst abscheuerte, bis ihre Haut rot glühte.
Ihr Herz klopfte kräftiger, aber nicht schneller als sonst - oder sie nahm es nur so wahr.
Als sie sich fertig gewaschen hatte, ließ sie sich wieder ganz ins Wasser sinken und schloss die Augen.

Sie erwachte, weil die Sonne durchs Fenster schien. Sie hatte eine Gänsehaut, das Wasser war erkaltet, ihr Haar klebte nass an ihrem Kopf und ihr Körper wurde von einem Schauer geschüttelt.
Doch sie war ganz ruhig, Gleichgültigkeit füllte ihr Gemüt. Ihr Geist hatte einen Schutzwall erbaut gegen das, was im Kampf folgen sollte, und sie war dankbar dafür.

Laryc setzte seinen Weg durch das Dorf fort, bis die Sonne am Horizont aufging.
Seufzend ging er zurück ins Gebäude.
Das hieß wohl, dass die Waffen und Rüstungen bald fertig waren und sie weiter konnten.
Weiter mussten, in gewissem Maße.
Denn wie lange noch Zeit war, konnte keiner genau sagen.
Laryc konnte nur vermuten.
Und vermutlich blieb nicht mehr viel Zeit, bis die Schlacht beginnen würde.
Er wusste nicht, ob Lukkha bereits wach war, also beschloss er, einfach vor der Tür zu warten.
Schlafen hatte ja für ihn ohnehin keinen Zweck.

Nachdem Lukkha sich getrocknet und angezogen hatte, verließ sie das Bad und wollte in Richtung Tür, um ein Stockwerk tiefer in den Schankraum zu gelangen, wo sie die anderen beim Frühstück vermutete.

Ihre Gestalt im Spiegel ließ sie jedoch für einen Moment im Zimmer verharren.

Da blickte sie eine junge Frau an, die nicht mehr viel gemein hatte mit der, die noch vor einigen Wochen aus dem Spiegelbild zurückgeschaut hatte.
Die junge Frau jetzt sah kämpferischer aus, entschlossener, stärker - und bitterer. Ein Hauch von Traurigkeit und Verzweiflung schwebte in den grünlichen Augen.

Lukkha atmete aus und wandte sich ab.
Sie öffnete die Tür und lief prompt in Laryc, der davor scheinbar gewartet hatte.

Als Lukkha aus der Tür heraus kam, zuckte Laryc kurz zurück.
Er hatte in dem Moment nicht damit gerechnet, dass sie heraus kam.
In seinen Augen war seine Erschöpfung klar erkennbar, doch er wollte sich nicht anmerken lassen.
Schließlich hatten sie viel wichtigeres zu tun, als zu schlafen.

"Guten Morgen Lukkha. Habt Ihr gut geschlafen?", fragte er dann und musterte sie.
In ihrem Blick spiegelte sich ihre Gefühlslage wider.
Ein bisschen Traurigkeit.
Ein bisschen Verzweiflung.
Es tat Laryc weh, sie so sehen zu müssen... Und das Schlimmste war, dass das ganze seine Schuld war.
Wegen ihm musste sie so leiden.
Wegen ihm litt sie noch immer.
Und auch wenn er es unterbinden wollte, konnte er es nicht.
Seit dem Moment, ab dem er sie entführt hatte, war er für ihr Leiden verantwortlich.
Es versetzte ihm einen Stich ins Herz; ein Gefühl, was für ihn sehr selten war.
Bedeutete sie ihm so viel?

Lukkha fing seinen Blick auf und erkannnte darin für einen klitzekleinen Moment den gleichen Ausdruck wie in den Augen ihrer Mutter, wenn sie sich für irgendetwas verantwortlich gemacht hatte, das Lukkha als kleines Kind passiert war - und sei es nur ein aufgeschürftes Knie vom Spielen gewesen. Dass es in Larycs Geist nicht um ein kaputtes Knie ging, war Lukkha klar, aber überhaupt war sie überrascht über diesen Schein in seinen Augen - und auf eine Weise dankbar, denn scheinbar machte er sich Sorgen um sie und das musste bedeuten, dass sie ihm wirklich nicht völlig egal war.

"Guten Morgen, ja habe ich. Du nicht, richtig?", erwiderte sie schließlich auf seine Frage und wandte sich Richtung Treppe, um in den Schankraum zu gelangen.

Laryc war froh, dass sie gut geschlafen hatte.
Natürlich wusste sie, dass er nicht geschlafen hatte.
Wieso sollte er ihr also etwas vormachen?
"Nein... richtig.", erwiderte er also tonlos und blickte ihr nach.
Sollte er folgen?
Er war sich nicht sicher, schließlich wollte er sie auch nicht stören oder nerven.
Nach kurzem Zögern folgte er ihr die Treppen hinab.
"Und... sonst alles in Ordnung?"

Lukkha kam nicht umhin, auf der Treppe stehen zu bleiben, sich umzudrehen und Laryc einen kurzen, völlig ratlosen Blick zuzuwerfen. Ob alles in Ordnung war? Und seit wann war er denn so interessiert an ihrem Seelenleben?

"Nun ja, nein, eigentlich ist nicht alles in Ordnung, aber danke der Nachfrage", erwiderte sie also ein bisschen überfordert, ging einen weiteren Schritt die Treppe hinunter, sah ihn dann nocheinmal an, immer noch ratlos, und musste plötzlich lächeln. Wie absurd ihre Situation doch war: entführt von einem Dämonen, verraten von ihrer Familie, auf den Weg in einen aussichtslosen Kampf für die Ratten und vielleicht ein ganz kleines bisschen angezogen von der seltsamen Ausstrahlung ihres dämonischen Begleiters. Der sie nach ihrem Wohlbefinden fragte. Obwohl er es ziemlich sicher besser wusste. Was ihn irgendwie ... planlos niedlich machte.

"Komm, Frühstück, Dämon", nuschelte sie kopfschüttelnd in ihren nicht vorhandenen Bart, um die verlegene Röte in ihrem Gesicht vor ihm zu verstecken.

//Nicht alles in Ordnung?//, wiederholte er kurz in Gedanken ihre Worte.
Natürlich war nicht alles in Ordnung.
Wie kam er auch darauf, eine derart triviale Frage zu stellen?
Wie dumm von ihm.

Er seufzte kurz und nickte dann auf ihre Aufforderung.
"Ja. In Ordnung.", erwiderte er dann und folgte ihr.
Zwar hatte er keinen besonders großen Hunger, was natürlich vornehmlich an der gesamten Anspannung lag, die überall herrschte.
Der Kampf stand bald bevor.
Laryc musterte Lukkha.
War sie überhaupt bereit dafür?
Würde sie es schaffen?
Und was hatte er sich dabei eigentlich gedacht?

Über Larycs Zustimmung stumm lächelnd folgte Lukkha Jaros durchdringender Stimme und Ezras Lachen durch den Schankraum zu einem Tisch in einer Nische an einem Fenster, das halb von vertrockneten Pflanzen verdeckt war und durch das nur wenig Licht der Morgensonne drang.
Staub und der Dampf der zwei Kaffeetassen vor dem Werwolf und der Elfe tantzen diesem zarten Licht und der Geruch von noch warmen Brötchen schwebte über der gesamten Wirtsstube.

"Guten Morgen", säuselte Ezra, sobald sie Laryc erblickte und Jaro hob unnötigerweise die winkende Hand, grinste breit und orderte per Handzeichen auch Kaffee für Lukkha und Laryc.
"Setzt euch", lächelte Ezra dann, griff nach Larycs Arm und zog ihn neben sich auf die Bank, was Jaro mit einem ehrlichen wie dreckigen Lachen quittierte und auf den freien Platz neben sich klopfte.
Amüsiert von seinem absolut vor den Kopf stoßenden Verhalten ließ Lukkha sich fallen und registierte mit einer Art Genugtuung den säuerlichen Blick, den die Elfe Jaro zuwarf, ehe sie Laryc wieder ein strahlendes Lächeln schenkte.